Bei Stabant Mariae hört, sieht und spürt das Publikum den Leidensweg Jesu Christi aus der Perspektive der Frauen, die ihn ein Leben lang begleitet haben und am Kreuz stehen blieben: Stabant Mariae. Gemeint sind seine Mutter Maria und Jüngerinnen wie Maria Magdalena, Maria Salome und Maria Jacobi.
PROGRAMM
Marc-Antoine Charpentier (1643-1704)
„Magdalena lugens” H. 343
“Dialogus inter Magdalena et Jesum” H. 423.
Manuela Villiger (*1992)
teachHer (2022)
Uraufführung d. Kompositionsauftrages an eine Schweizer Komponistin
Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736)
Stabat Mater (1736)
Text: Stabat mater dolorosa (unbekannt)
MOTIVATION & HINTERGRUND
Wie es in der Schweizer Kultur nicht ausbleibt, zumindest an bestimmten Feiertagen wie dem Osterfest, in die Kirche zu gehen, ist es normal, dass junge Sänger*innen in Gottesdiensten und bei kirchlichen Anlässen singen. Die Entwicklung der klassischen, westlichen Musik steht und fällt mit dem Einfluss der Kirche. Monumentale Werke wie Monteverdis Marienvesper, Bachs H-Moll Messe oder Haydns Schöpfung und somit auch die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben sind aus der Laufbahn eines*r professionellen Musikers*in nicht wegzudenken. Von der Schöpfung bis zu Kreuzigung bleibt aber eine Frage offen: Wo sind die weiblichen Vorbilder?
Ein Beispiel ist Eva aus der Schöpfungsgeschichte, die oft als gierige Nackte dargestellt wird, die unsere Welt ins Verderben stürzt. Auf der anderen Seite steht die Mutter Gottes, die hauptsächlich schön und still ist – und leidet, wie in Pergolesis „Stabat Mater“. Fakt ist jedoch: es gibt viele weitere Frauen in der christlichen Geschichte, die auch andere Charakterzüge und Werte hatten, als die, welche ihnen im Nachgang von Komponisten und Gelehrten zugeschrieben wurden.
Kennen Sie zum Beispiel Lilith? In einer Erzählung flieht Adams erste Frau, weil sie sich nicht unterordnen wollte: „Weshalb sollte ich unten liegen? Ich bin ebenso viel (wert) wie du, wir sind beide aus Erde geschaffen.“ (Aus: Eva – Die erste Frau der Bibel: Ursache allen Übels?, S. 118) Lilith ist heute ein Sinnbild für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Auch die typischen Tugenden der Mutter Gottes, Gehorsam, Demut, Unterwerfung und Keuschheit, repräsentieren die moderne Gesellschaft wenig. Ist Maria nicht viel mehr eine asylsuchende Mutter, eine Frau, die für ihre Rechte und die ihres Sohnes einsteht, ohne Rücksicht auf Verluste?
DAS KONZERT
Keine andere Frau wurde in der Kunst öfter abgebildet, als Maria, die Mutter Gottes. Sie steht schmerzerfüllt im Zentrum des “Stabat Mater” von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736). Auf der einen Seite hat Pergolesi mit seiner Komposition ein monumentales Meisterwerk geschaffen, das bis heute nicht an Strahlkraft und musikalischer Schärfe eingebüsst hat. Er komponierte das Werk für Streicher, Tasteninstrument und zwei Vokalsolistinnen nur einige Wochen vor seinem Tod. Auf der anderen Seite zeichnet Pergolesi ein Bild der Maria, welches mitten in’s Herz geht und uns mit fühlen lässt mit einer Frau, die machtlos zusehen muss, wie ihr Sohn am Kreuz hängt. Eine Frau, die trotz allem die Stärke besitzt, stehen zu bleiben auch im Angesicht des eigenen Todes. Eine Frau, zu der wir aufschauen und sie im Laufe des Stückes immer wieder bitten, ihre Stärke und Liebe mit uns zu teilen.
Marc-Antoine Charpentier (1643-1704)lebte kurz vor Pergolesi in Paris. Trotz seiner Bemühungen erhielt er keine Anstellung bei König Ludwig XIV. Dennoch erzielte er schon zu Lebzeiten große Erfolge. Stilistisch bewegen sich seine Werke zwischen französischen und italienischen Stilelementen. Zu hören ist dies auch in denVokalwerken „Magdalena lugens” H. 343 und “Dialogus inter Magdalena et Jesum” H. 423. Maria Magdalena kommt die Rolle der Vertrauten, oft auch Geliebten Jesus Christus zu. In “Maria lugens” besingt sie ihren Schmerz über den Verlust Jesus. In “Dialogus inter Magdalena et Jesum” erscheint der auferstandene Jesus als erstes Maria Magdalena, spendet ihr Trost und Zuversicht, die sie an die Jünger*innen weitergeben solle. Über ihre Beziehung zu Jesus Christus herrscht Uneinigkeit. Nicht zu negieren ist jedoch ihre existentielle Rolle in der Ostergeschichte. Neben diesen beiden Frauen existieren in Jesus Leben und in der gesamten Bibelgeschichte noch viele weitere Frauen, die zum grossen Teil bis heute stumm geblieben sind. Diese Gedanken werden in einem Kompositionsauftrag für Schweizer Komponistinnen aufgegriffen. Richtig gelesen – nur für Komponistinnen. Denn diese weibliche Perspektive ist essentiell für das Projekt und für die Aufarbeitung der weiblichen Bibelgeschichte. Zwischen den Wahrnehmungen von Geschlechtern gibt es Unterschiede – und das ist gut so. Alle Perspektiven sind wertvoll und wichtig. Wir können diese aber erst egalitär behandeln, wenn sie gleichwertig vertreten sind. Frauen stellen auf Konzertprogrammen allerdings die deutlicheMinderheit.InderSaison2019/20stammtenlauteinerStudievonMelissaPanlasiguis insgesamt 9,4 Prozent der programmierten Werke von lebenden Komponierenden, und davon wiederum nur 11,6 Prozent von Komponistinnen. Mit „Stabant Mariae“ wollen wir unseren Beitrag leisten, dieses Missverhältnis ins Gleichgewicht zu rücken. Die Uraufführung des Werkes von Manuela Villiger kontrastiert und komplettiert neben Pergolesi und Charpentier das Programm Stabant Mariae: „Die über Jahrhunderte andauernden, patriarchalischen Machenschaften an biblische Frauenfiguren, sie (un)absichtlich zu verstummen oder in ihrer Wirkungsweise zu verzerren, bilden den Startpunkt der Komposition.Sosollmithilfe vonLive-Elektronik einklanglichesFundamententstehen,welchesnachund nach defragmentiert und überlagert wird. Daraus werden Marta und Maria aus Betanien und die damit verbundenen Rollen der Frau in der (heutigen) Gesellschaft thematisiert. Kombiniert mit feministischen Überlegungen von Chimamanda Ngozi Adichie verschwindet der Dualismus zwischen sinnlicher, fürsorglicher Mutterfigur und selbstbewusster, emanzipierter Intellektuellen nach und nach.“
Das visuelle Konzept dreht sich um die Farbe Blau. Blau ist nicht nur die typische Marien-Farbe, sondern auch die Farbe der Mächtigen. Das kostbare, optisch leuchtende Ultramarinblau unterstrich im Mittelalter die Himmelsnähe der sogenannten „Öffnerin des Himmels“. Blaues Licht kleidet jeden Konzertraum individuell ein, ohne die Struktur des Gebäudes zu verändern.
Nach jedem Konzert ist das Publikum zu einer Gesprächsrunde mit Aperó eingeladen. Gesprächsstoff und Hintergrundwissen liefern Menschen und Vereine, die im kirchlichen, feministischen und musikalischen bzw. künstlerischen Kontext arbeiten. Im Anschluss folgt ein moderierter Austausch zwischen Expertinnen und Zuhörer*innen. Außerdem entstanden Kooperationen mit regionalen Institutionen wie dem Museum Bruder Klaus in Obwalden zu kooperieren. Die Musik unserer Konzerte schafft durch deren Diversität und Emotionalität eine gemeinsame Basis. Sie bereitet einen ebenen Nährboden für eine fruchtbare Diskussion über das Frau sein – in der Geschichte und im Heute. In den Gesprächsrunden folgen den abstrakten musikalischen Bildern konkrete Worte, Fragen, Sorgen, Ängste, Gefühle und Gedanken.